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Was kann ein ‚medienmaterialistischer‘ Ansatz zur Rekonstruktion der frühesten Geschichte des israelitisch-judäischen Monotheismus beitragen?

Joachim Schaper


Seiten 227 - 242

DOI https://doi.org/10.13173/zeitaltobiblrech.27.2021.0227




1 Siehe S. 118 im vorliegenden Band.

2 Siehe S. 118 im vorliegenden Band. Vgl. hierzu auch die folgende Bemerkung Jan Assmanns, ebd., S. 119: „Nun ist aber der Prozess, um den es hier geht, nicht als Evolution im biologischen Sinne zu begreifen, denn anders als in der Natur und bei aller Unbewusstheit der Wirkungen, die die Verwendungsformen von Schrift und Geld und die Verbannung der Bilder bei den Israeliten ausgelöst haben mögen, hatte dieser Prozess doch – man scheut sich fast, diese simple Binsenweisheit in dem hochtheoretischen Kontext des Mediendiskurses in Erinnerung zu rufen – von allem Anfang an ein Ziel vor Augen, das Ziel nämlich, dass die frühen Propheten vertreten haben und das die strikte, ausschließliche Alleinverehrung JHWHs forderte.”

3 Siehe S. 183 im vorliegenden Band.

4 So würde ich natürlich auch nicht im Traume bestreiten, dass „[b]ereits das Bundesbuch in Ex 20,22-23,13 ist von Prozessen sozialer Differenzierung geprägt [ist]” und dass dies „zeigt […], dass der Prozess der theologischen Gegenreaktion gegen Auflösungserscheinungen der Gesellschaft durch eine Theologisierung des Rechts ein sehr bewusster Vorgang war, der zeigt, dass die Theologie in Juda schon im 8. Jh. nicht Objekt und Funktion unbewusster Prozesse in der Gesellschaft ist, sondern sehr bewusst derartigen Vorgängen entgegensteuert und also nicht Funktion der materiellen Basis der Kulturgeschichte ist” (so Eckart Otto in seiner Rezension in diesem Band, S. 113). Nur sind eben diese sehr bewussten theologischen Gegenreaktionen nicht das Thema meines Buches; ich frage vielmehr danach, welche einzigartige, in der materialen Kultur verankerte intellektuelle Konstellation es war, die an der Wurzel des Monotheismus liegt.

5 MEW 3, 26-27.

6 Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, 168.

7 Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus (Edition Akzente), München 2003; Derrick de Kerckhove, La civilisation vidéo-chrétienne, Paris 1990; dt. Schriftgeburten: Vom Alphabet zum Computer, übs. von M. Leeker, München 1995; Régis Débray, Dieu. Un itinéraire. Matériaux pour l'histoire de l'Eternel en Occident, Paris 2001.

8 Siehe S. 116 im vorliegenden Band.

9 Siehe Reinhard Ferdinand Nießner, Ernst Troeltsch und „der Geist von Karl Marx”. Die Modifikation des Basis-Überbau-Theorems durch Ernst Troeltsch, in: Joachim Schaper und Volker Leppin (Hgg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? [Arbeitstitel], Leipzig 2022.

10 Das gilt insbesondere für Troeltschs Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit. So schreibt er zum Beispiel über das Heraufkommen einer radikalen individualistischen Mystik im Spätmittelalter folgendes: „Alle diese Theorien folgen nicht bloß der theoretischen Konsequenz des Gedankens, sondern sind Konsequenzen, die erst durch die den Trieb zur Umbildung und Neubildung erweckenden Verhältnisse hervorgeholt sind. Ihre Unterlage ist ein tatsächlicher Wandel der allgemeinen Verhältnisse, durch den erst die mittelalterliche Welt wirklich erschüttert worden ist. Diese oft dargestellten Dinge seien hier nur angedeutet” (Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 [Nachdruck Aalen 1977], 420). Und noch deutlicher zeigt es sich in dieser Bemerkung über das Spätmittelalter: „Der mit Monopolen, Kreditverkehr, Handelsgesellschaften und Hausindustrie einsetzende Kapitalismus sprengt die mäßigen Anerkennungen der natürlichen Bedürfnisse, die die einfache kirchliche Ethik allein gekannt hatte” (Troeltsch, Soziallehren, 421). Man sieht also, dass bei Troeltsch durchaus das Bewusstsein für einen mehr oder minder direkten Zusammenhang zwischen Lebensprozessen und Bewusstseinsformen herrscht. Ähnliches ließe sich für Max Weber nachweisen. Beide ziehen jedoch aus ihrer Einsicht keine methodologischen Konsequenzen für ihre historisch-soziologischen Analysen der Wirtschaftsethik und der Soziallehren der Reformation.

11 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW 13, S. 3-160), 8-9.

12 Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Berlin 22012, 86-87.

13 Vgl. Joachim Schaper, Statt einer Einleitung: Reformation, frühbürgerliche Revolution, und die Frage nach Basis und Überbau, in: Joachim Schaper und Volker Leppin (Hgg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? (siehe Anm. 9).

14 István Mészáros, Social Structure and Forms of Consciousness, Bd. II: The Dialectic of Structure and History, New York 2011, 57.

15 Siehe oben, Text zu Anm. 11.

16 T. McKenna, Rezension von István Mészáros, Social Structure and Forms of Consciousness, Bd. II: The Dialectic of Structure and History, New York 2011, https://marxandphilosophy.org.uk/book/6920_social-structure-and-forms-of-consciousness-volume-ii-the-dialectic-of-structure-and-history/ (abgerufen am 4. 7. 2021): „What both Lukács and Mészáros realise is that ‘technique’ is not synonymous with ‘forces of production’ for the ‘forces of production’ include the productive class itself as well as the technology it utilizes in order to reproduce social existence. Consequently ‘the forces of production’ are, in Marxist terms, also ‘forms of being’ […] which arise from social-historical development, and are not premised on a historical-technological development in isolation.”

17 Insofern geht es völlig an der Sache vorbei, wenn Jan Dietrich von der „Anwendung des (vom Verfasser traditionell-einseitig verstandenen) Basis-Überschau-Schemas”, siehe S. 169 im vorliegenden Band.

18 Zu Cognitive Archaeology und Cognitive Historiography vgl. z.B. Karenleigh A. Overmann und Frederick L. Coolidge, Introduction: Cognitive Archeology at a Crossroads, in: dies. (Hgg.), Squeezing Minds from Stones. Cognitive Archeology and the Evolution of the Human Mind, New York 2019, 1-12 und Leonardo Ambasciano, What is Cognitive Historiography, Anyway? Method, Theory, and a Cross-Disciplinary Decalogue, in: Journal of Cognitive Historiography 4 (2019), 136-150. In jüngster Zeit beginnt die Cognitive Science of Religion auf die Alttestamentliche Wissenschaft einzuwirken. Brett E. Maiden, Cognitive Science and Ancient Israelite Religion. New Perspectives on Texts, Artifacts, and Culture (Society for Old Testament Study Monograph Series), Cambridge 2020 ist eines der noch ganz wenigen Beispiele dieser Entwicklung, und bisher das vielleicht interessanteste.

19 Hanno Pahl, Geld, Kognition, Vergesellschaftung. Soziologische Geldtheorie in kultur-evolutionärer Absicht, Wiesbaden 2021, 12: „Dass Kulturentwicklung und Kognitions- bzw. Rationalitätsentwicklung historisch verschränkt sind, bildet den spezifisch soziologischen Ausgangspunkt bei Sohn-Rethel. Im Unterschied zur frühen Wissenssoziologie Karl Mannheims – die zeitlich mit der Genese von Sohn-Rethels Programm zusammenfällt bzw. dieser leicht vorausgeht – adressiert Sohn-Rethel dezidiert auch die sogenannten harten Wissensformen. Es wird argumentiert, dass zwar das konkrete Forschungsdesign von Sohn-Rethel, nämlich Denkformen aus sogenannten Realabstraktionen (also Abstraktionsprozessen, die in der Praxis statthaben) abzuleiten, mit Problemen behaftet ist, dass dies aber keinen Einwand gegenüber der Legitimität seines grundsätzlichen Forschungsinteresses darstellt. Sohn-Rethels Interesse – so lässt sich vom heutigen Wissensstand aus sagen – zielte auf Formzusammenhänge ab. Die bei ihm zutreffend diagnostizierte Strukturähnlichkeit von geldvermitteltem Warentausch und einem Denken zweiter Ordnung (Denken des Denkens, Philosophie) im antiken Griechenland bildet einen Spezialfall strukturanaloger Abstraktionsweisen, die aus dem gegenwärtigen Forschungsstand heraus wesentlich präziser ausgearbeitet und besser unterfüttert werden können.” Sohn-Rethels Arbeiten liegen Teilen des dritten Kapitels meiner Monotheismus-Studie zu Grunde.

20 Pahl, Geld, 144 (vgl. die Diskussion Sohn-Rethels im Kontext naturalistischer Epistemologien, a.a.O, 137-144).

21 Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie, Weilerswist 2011; Davor Löffler, Generative Realitäten I. Die Technologische Zivilisation als neue Achsenzeit und Zivilisationsstufe. Eine Anthropologie des 21. Jahrhunderts. Weilerswist 2019.

22 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Darstellung meiner Kritik an Sohn-Rethel (in J. Schaper, ‚Real Abstraction' and the Origins of Intellectual Abstraction in Ancient Mesopotamia. Ancient Economic History as a Key to the Understanding and Evaluation of Marx's Labor Theory of Value, in: J. Renn und M. Schemmel [Hgg.], Culture and Cognition. Essays in Honor of Peter Damerow, Berlin 2019, 67–74, hier: 73-74) in Pahl, Geld, 133, mit Anm. 11.

23 Siehe dazu Schaper, Media and Monotheism, z.B. S. 12, 201, Schaper, ‚Real Abstraction', passim und dazu Pahl, Geld, 211, 243.

24 Maiden, Cognitive Science and Ancient Israelite Religion, 1.

25 Löffler, Generative Realitäten, 101-118.

26 Löffler, Generative Realitäten, 119-141 (insbesondere 123-125), hier: 123.

27 Moritz Mutter, Axiomatische Existenzen. Medien, Mathematik und Soziologie des Menschen 1800/1900/2000, Weilerswist 2020, 72.

28 So die kluge Analyse in Mutter, Axiomatische Existenzen, 71-77.

29 Mit einer „marxistisch-psychoanalytischen” oder gar „marxistisch-freudianischen” Interpretation hat es – anders als Jan Dietrich meint – nichts zu tun, allein schon deswegen, weil ich mir nun wirklich keine psychoanalytische Kompetenz anmaße (ebensowenig wie Jan Assmann „freudianisch” argumentiert, nur weil er in seiner Studie zur „Mosaischen Unterscheidung” Freuds These zum „Fortschritt in der Geistigkeit” diskutiert …). Aber um einen (nicht dezidiert marxistischen, wohl aber) historisch- materialistischen Ansatz handelt es sich natürlich durchaus, in dem oben beschriebenen Sinne. Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Missverständnissen in Jan Dietrichs Aufsatz siehe unten, Abschnitt 3.

30 Siehe Michael Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992, 39-71 zu Marx und Engels in Relation zum Historismus, der den historischen Materialismus Marx'scher Prägung allerdings anders sieht.

31 Robert Bellah, Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge, MA/London 2011, xviii.

32 Bellah, Religion, xix.

33 In jüngster Zeit finden sich in der Alttestamentlichen Wissenschaft dann auch durch medienarchäologische Fragestellungen mitgeprägte Arbeiten wie z.B. Dominik Markl, Media, Migration, and the Emergence of Scriptural Authority, in: ZThPh 143 (2021), 261-283.

34 Siehe die Darstellung der Geschichte der Kulturevolutionsforschung von 1980 bis 2020 und den Ausblick auf ihre zukünftige Entfaltung in Löffler, Generative Realitäten I, 101-118 und 119-141.

35 Siehe Anm. 31.

36 Löffler, Generative Realitäten I, 135-136. Vgl. hierzu Pahl, Geld, 4: „Bei Bammé und Löffler wird das – vor allem aus der Achsenzeitdebatte bekannte – Motiv breitflächiger gesellschaftlicher Strukturbrüche generalisiert und zur Erklärung der gesamten Zivilisationsgeschichte in Stellung gebracht. Anders als im Gros der Achsenzeitdebatte beschränkt sich die Analyse bei Bammé und Löffler nicht vornehmlich auf Semantikanalysen, sondern inkludiert kognitionswissenschaftliche, evolutionstheoretische, archäologische, ökonomiehistorische, medienmaterialistische und weitere Befunde. Diesem Forschungsprogramm, das dezidiert nicht-teleologisch angelegt ist, aber gleichwohl zeigen kann, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht kontingent verläuft, sondern durch Pfadabhängigkeiten geprägt und insofern entlang spezifischer Entwicklungstrajektorien prozessiert, wird hier gefolgt.”

37 Pahl, Geld, 119.

38 Pahl, Geld, 119. Vgl. ebd.: „Ihre [Havelocks, Goody und Walter Ongs; J.S.] Hauptthesen lassen sich bündig in der Kette ‚Alphabetschrift→Rationalität→Gesellschaftswandel' (Bachur 2017, S. 166) kennzeichnen. Dass Schrift und insbesondere das phonetische Alphabet Sprache sichtbar und damit logisch besser handhabbar machte als zuvor und auf Kognitions- und Gesellschaftsentwicklung eingewirkt hat, ist nicht zu bestreiten. Die neuzeitliche europäische Rationalität, geschweige denn die gesamte westliche Zivilisation, lässt sich nur aus den medialen Eigenschaften des phonetischenAlphabets aber nicht ableiten (vgl. ebenda sowie Halverson 1992).” Vgl. dazu meine Kritik an Havelock u.a. in Media and Monotheism, 201.

39 Schaper, Media and Monotheism, 201; vgl. dazu Pahl, Geld, 204.

40 Siehe S. 173 im vorliegenden Band.

41 Schaper, Media and Monotheism, 224-235. Meine zentrale These wird z.B. auch in Jan Assmanns Beitrag zu diesem Band genau erfasst und zusammenfassend skizziert. Vgl. auch die folgende Bemerkung Assmanns: „Wir haben es hier also mit Kulturtechniken zu tun, die in der Umwelt Israels schon lange in Gebrauch waren, ohne dort allerdings geistige Prozesse wie in Israel und Juda auszulösen. Aber das ist natürlich kein Einwand gegen Schapers evolutionistische Rekonstruktion der ‚großen Wende'. Er sieht ja nicht in der Erfindung, sondern in der Verwendung von Alphabet und Geld das auslösende Element, das bei den Hebräern, und nur bei ihnen, die dritte und größte Abstraktionsleistung, den Monotheismus, hervorbrachte, der von den unendlichen Möglichkeiten absieht, in denen sich das Göttliche in der Welt manifestieren kann.” Vgl. auch seine Bemerkung: „Außerdem betont Joachim Schaper mehrfach, dass er seine Deutung nicht in deterministischem Sinne missverstanden wissen will, so als determiniere die Verwendung bestimmter Medien die kulturelle Entwicklung. Schrift und Geld ziehen die entsprechenden Folgen nicht notwendig nach sich, sie bereiten ihnen nur den Boden und konditionieren die Menschen auf eine ihnen unbewusste Weise, machen sie abstraktionsfähig, sodass sie schließlich auch auf den Monotheismus kommen.”

42 Siehe S. 174 im vorliegenden Band.

43 Lesern, die sich zu diesem Thema näher informieren möchten, empfehle ich diesen jüngst erschienenen Band: Antonio Oliva / Angel Oliva / Ivan Novara (Hgg.), Marx and Contemporary Critical Theory. The Philosophy of Real Abstraction, Cham 2020. – Andere Missverständnisse meiner Argumentation in Jan Dietrichs Beitrag, die hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden können, werde ich bei Gelegenheit anderswo korrigieren.

44 Pahl, Geld, 2 (Anm. 1), 133, 197-199, 204, 211 u.ö.; Joachim Schaper, Gesprochene Sprache, Schrift und Ikonophobie im alten Israel, auf dem Hintergrund Griechenlands und Ugarits, in: Friedrich Kittler, Peter Berz / Joulia Strauss / Peter Weibel zusammen mit Gerhard Scharbert (Hgg.), Götter und Schriften rund ums Mittelmeer, München 2017, 157-169; vgl. das Vorwort zum Band, S. 13-17.

45 Vgl. z.B. Markl, Media sowie allgemein Maiden, Cognitive Science and Ancient Israelite Religion, 177-210.

46 Siehe S. 119 im vorliegenden Band.

47 Siehe Media and Monotheism, 48-49.

48 Siehe Media and Monotheism, 224-235.

49 Siehe den Untertitel von Hanno Pahls Buch (oben, Anm. 20).

50 Siehe S. 142 im vorliegenden Band.

51 Siehe S. 141 im vorliegenden Band.

52 Zu dem, was ich im Begriff der „word–image dialectic” zusammengefasst habe, vgl. jetzt treffend Dominik Markl im vorliegenden Band, S. 180: „Die kontrastive Gegenüberstellung von Bild und Schrift setzt die Entwicklung und Verwendung der Alphabetschrift voraus. Während bildliche Repräsentation von Göttern die basale theologische Ausdruckskraft der Hieroglyphenschrift ausmacht, und auch die Keilschrift teils noch Götter symbolisch repräsentiert, macht die Abstraktion der Alphabetschrift den Gedanken des Bilderverbots erst möglich.”

53 Siehe S. 124 im vorliegenden Band.

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