Skip to content

Marx – Durkheim – Weber, Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Zu einem Entwurf von Wolfgang Schluchter


Pages 391 - 402

DOI https://doi.org/10.13173/zeitaltobiblrech.13.2007.0391




München

1 Cf. u. a. D. Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. I: Von August Comte bis Norbert Elias; Bd. II: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999.

2 Cf. u. a. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / Main 1984.

3 Cf. T. Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with a Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York 21949.

4 Cf. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt / Main 1981.

5 Siehe dazu G. Albert u. a. (Hg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003.

6 Cf. nur W. Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt / Main 1998; ders., Handlung, Ordnung und Kultur. Studien zu einem Forschungsprogramm im Anschluß an Max Weber, Tübingen 2005

7 Cf. W. Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. II: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt / Main 1988.

8 Cf. W. Dilthey, Das Wesen der Philosophie, Gesammelte Schriften V (1907), Stuttgart 1968.

9 Der Verf. zeichnet den Weg der Durkheimschen Rechtssoziologie bis in die Verästelungen nach, sistiert aber die Frage nach der rechtshistorischen Stimmigkeit der Entwicklungsperspektiven als für sein Unternehmen der Rekonstruktion des Durkheimschen Forschungsprogramms nicht bedeutsam. Darauf, dass an dieser Stelle ein Grundproblem der Funktion einer Klassikerexegese für eine Grundlegung heutiger Soziologie aufbricht, sei hingewiesen. Dem historischen Material kommt nun einmal der Rang für die Theoriebildung zu, den für gegenwärtige Erscheinungen das Experiment und der statistische Befund haben. Wenn sich deren Ergebnisse als nicht stichhaltig erweisen, hat das Rückwirkungen auf die Theoriekonstruktion. Das gilt gleichermaßen dort, wo historische und ethnologische Tatbestände der Theorie zugrunde gelegt werden, deren Interpretation sich später als unzutreffend erweist. Was für die Hegel- und Marx-Interpretation gilt, muss auch für die Rekonstruktion der Forschungsprogramme von Durkheim und Weber gelten. Erweisen sich die historischen und ethnologischen Tatsachenbeschreibungen als forschungsgeschichtlich überholt, bedeutet das aber keineswegs, dass damit die Theoriekonstruktion erledigt wäre. Es ist nachdrücklich zu fragen, ob sich die Theorie bei einer Reformulierung auf der Basis neueren Forschungsstandes verändern muss oder nicht. Wo eine derartige Reformulierung nicht gelingen will, können umso deutlicher Züge der Theorie in Gestalt von Fragestellungen hervortreten, die zu beantworten uns nach wie vor aufgegeben bleibt. Alles dies mag so sein – nur eines geht nicht, nämlich zu meinen, dass das historische oder empirisch-gegenwärtige Basismaterial soziologischer Theoriebildung ein Adiaphoron sei. Gerade die Kantsche Erkenntnistheorie verweigert sich einer derartigen Annahme.

10 Wenn Durkheim feststellt, es handle sich dabei um zwei Gesichter ein und derselben Wirklichkeit, und daraus der Verf. den Schluss zieht, die Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität sei nicht mehr historisch, sondern nur noch analytisch zu fassen, so erscheint mir diese Schlussfolgerung überpointiert, da Durkheim eher die historische Überlagerung von segmentären Struktur durch solche der Arbeitsteilung im Blick hat, so dass keineswegs generell die direkte Integration des Individuums in die Gesamtgesellschaft über Ähnlichkeit, die Integration der Gruppen in die Gesellschaft über komplementäre Unähnlichkeit reguliert werde. Das Individuum wird auch in arbeitsteiliger Gesellschaft über Identität „mechanisch“ in segmentäre Gruppen, d. h. Familien und Zünfte etc., integriert, die in der Gesamtgesellschaft durch Beziehungen organischer Solidarität verbunden sind. Die Überlagerung von segmentärer und arbeitsteiliger Struktur und ihrer Kollektivideale ist historisch zu beschreiben. Dass Durkheim unkantianisch in diesem Zusammenhang von aristotelischer Güterethik beeinflusst ist, sei angemerkt.

11 Der Verf. weist zu Recht auf die Differenz zwischen Durkheim und Weber hin. Impliziert das Heilige für Durkheim schon eo ipso einen Zug der Weltablehnung des Profanen, so ist dies für Weber erst Kennzeichen einer Entwicklung der Religion zur Erlösungsreligion.

12 Wieder notiert der Verf. mit Hinweis auf C. Lévy-Strauss die religionsethnologische und -historische Fragwürdigkeit dieser These, sistiert aber erneut die Frage nach der Stimmigkeit als nicht weiter von Bedeutung. Die Tatsache, dass das historische Faktenmaterial, das für die Konzeption eines Forschungsprogramms genutzt wurde, forschungsgeschichtlich überholt ist, ist für die Funktion eines klassischen Forschungsprogramms für eine heutige Grundlegung einer Soziologie keineswegs zweitrangig. Es sollte zumindest der Versuch gewagt werden zu prüfen, ob und wie dieses Forschungsprogramm auf der Basis des heutigen Wissensstandes reformulierbar ist, ehe es in eine Grundlegung heutiger Soziologie eingeführt wird. Historisches Wissen ist Grundlage und nicht nur Spielmaterial der Konstituierung eines Forschungsprogramms. Das gilt auch gerade unter der Voraussetzung einer Weberschen Erkenntnistheorie. Alle drei vom Verf. vorgestellten Klassiker haben sich jeweils um den neuesten Forschungsstand auf den von ihnen traktierten Feldern bemüht, was u. a. schon M. Weber veranlasste, in Bezug auf die Totemismus-Thesen, wie sie u. a. auch von W. Robertson-Smith vertreten wurde, sehr skeptisch zu sein. Siehe M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, MWG I/21.1–2, hg. von E. Otto unter Mitwirkung von J. Offermann, Tübingen 2005, 237. Siehe dazu E. Otto, Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen 2002, 194–280.

13 Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Durkheim ein Kenner der Kantschen Philosophie war und es ihm hier und dort ein Bedürfnis war, entlang der Argumentationslinien dieser Philosophie zu schreiben. Das aber bedeutet nicht, dass sie die ihn prägende Denkfigur auch nicht via negationis war. Was der Verf. als Transformationen und Ersetzungen Kantscher Philosopheme beschreibt, speist sich vor allem aus Comteschen Wurzeln.

14 Siehe M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 51982, 1–145.

15 Wenn der Verf. formuliert, Weber lege „nach der Jahrhundertwende und nach seiner partiellen Genesung die Grundpfeiler dar, auf denen er seine eigene Position errichtet: Nationalökonomie ist ihm jetzt eine wertfreie, zugleich theoriegeleitete und verstehende historische Kulturwissenschaft, die der Kantschen Erkenntnislehre folgt“ (S. 221), so hat das mit Kant allenfalls indirekt etwas zu tun, insofern Weber in der von Emil Lask (Fichtes Idealismus und die Geschichte [1902]) aufgemachten Alternative von analytisch-diskursiver Erkenntnistheorie, die einen vornehmlichen, aber keineswegs einzigen Vertreter in Kant hat, und emanatistischen Erkenntnistheorie im Hegelschen Sinne, der ersteren folgt. M. Webers Soziologie ist nur insofern „kantianisierend“, als sie den philosophischen Gewährsleuten des südwestdeutschen Neukantianismus folgend im Gegensatz zum Marxschen Forschungsprogramm keine identitätsphilosophischen Wurzeln hat.

16 Siehe M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Wissenschaftslehre (Tübingen 51982), 146–214.

17 M. Weber rekurriert dabei nicht auf Kant, wohl aber setzt er sich ausführlich mit Rickert auseinander; siehe auch oben Anm. 15.

18 Siehe M. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von K. Lichtblau und J. Weiß, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bodenheim 32000, sowie ders., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, herausgegeben und eingeleitet von D. Kaesler, beck'sche reihe 1614, München 2004. B. Quensel (Max Webers Konstruktionslogik. Sozialökonomik zwischen Geschichte und Theorie, Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 54, Baden-Baden 2007), hat Webers Konzeption einer Verstehenden Soziologie vornehmlich aus dem juristischen und nationalökonomischen Herkommen Webers erklären wollen. Siehe dazu H. Tyrell, Max Webers Konstruktionslogik (in diesem Jahrgang der ZAR).

19 Siehe dazu M. Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Wissenschaftslehre (Tübingen 51982), 291–359; ders., Nachtrag zu dem Aufsatz über Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., 360–383.

20 Siehe M. Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Wissenschaftslehre (Tübingen 51982), 472–474.

21 Siehe M. Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: ders., Wissenschaftslehre (Tübingen 51982), 541–581. Wenn der Verf. aufgrund von Webers polemischer Äußerung gegen Stammler, er missinterpretiere Kant, meint, Webers Grundbegriffe lassen sich „geradezu als eine empirische Ergänzung von Kants philosophischer Rechts- und Tugendlehre lesen“, so ist festzuhalten, dass Weber selbst einen derartigen Zusammenhang nicht hergestellt wissen will. Dieser Kant-Bezug bleibt auch der Rekonstruktion der Grundbegriffe durch den Verf. äußerlich und tut ihrem luziden Charakter keinen Abbruch. Dass Weber im Gegensatz zu Durkheim Kant nicht ersetzen wollte, ist eine Klammerthese der Studie, die aber der Studie insgesamt insofern auch äußerlich bleibt, als sich eine Intention Durkheims, Kant zu ersetzen, wie schon angesprochen, nicht verifizieren lässt.

22 Siehe dazu M. Weber, Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung), in: ders., Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893–1908, hg. von J. Deininger, MWG I/6, Tübingen 2006, 320–747. Unverkennbar hatten die Fragestellungen der Protestantismus-Aufsätze von 1904/05 schon einen Einfluss auf die Fassung der Agrarverhältnisse von 1908 ausgeübt, wie der Vergleich mit den beiden älteren Fassungen zeigt; cf. E. Otto, Max Weber also Sozial- und Wirtschaftshistoriker der Antike (in diesem Jahrgang der ZAR).

23 Zur Überarbeitung der im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienenen Studien zum antiken Judentum bis 1920 siehe E. Otto, Editorischer Bericht, in: MWG I/21.1, Tübingen 2005, 231f.

24 Der Verf. betont zu Recht, dass Webers Einordnung des Konfuzianismus als falsch bezeichnet werden muss und Weber die Weiterentwicklung des Konfuzianismus zu einem Neokonfuzianismus übersieht. Ebenso wird man seine Überlegungen zur Magieüberwindung im antiken Judentum (Siehe dazu E. Otto, Einleitung, in: MWG I/21.1, 113–116. 134–136) reformulieren müssen; Siehe dazu zuletzt R. Schmitt, Magie im Alten Testament, AOAT 313, Münster 2004.

25 Vor allem die Studien zum antiken Judentum zeigten Weber, dass in einer der von ihm genannten Kulturreligionen mehrere derartige Haltungen vertreten und die Übergänge fließend sind, letztlich also die Wirklichkeit der religiösen Welten vielschichtiger ist, als es die Systematisierung in den Zwischenbetrachtungen und der Einleitung zu erkennen gibt.

26 Cf. E. Otto, Max Webers Studien des Antiken Judentums (Tübingen 2002), 50–52. 238–240 u. ö.; ders., Einleitung (MWG I/21.1), 69. 128–130. Zu Webers vor allem durch G. Simmel vermittelte Nietzsche-Rezeption Siehe K. Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt / Main 1996, 102–177, bes. 145–158. Zur Schärfung der Konturen der eigenen Rekonstruktion des Weberschen Forschungsprogramms wäre es sicherlich hilfreich gewesen, wenn der Verf. diskursiver auch andere Positionen der Weber-Forschung expressis verbis einbezogen hätte, so sehr dem Fachmann die jeweiligen Abgrenzungen von anderen Forschungspositionen erkennbar sind.

27 Siehe dazu A. Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 37, Berlin / New York 1996; Chr. Fornari, Die Entstehung der Moral bei Nietzsche, Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien 2, Wiesbaden 2008 (in Vorbereitung).

28 Allerdings bleibt die Frage, wie noch die „Werte mit Selbstzweckcharakter“ als Grundlage der Autonomie der Wertsphären festgehalten werden sollen, wenn der „Kosmos“ der Wertsphären auf das gemeinsame Vielfache eines einlinigen Rationalitätsbegriffes reduziert werden soll. Dass sich die Ästhetik wie die Erotik, Ethik und nicht zuletzt die Religionen dem entziehen, liegt auf der Hand. Eine selbstreflexive Prinzipienethik kann nicht aus sich heraus die sie leitenden Prinzipien erzeugen. Das beansprucht auch die Kantsche Ethik nicht, die sich auf Prüfverfahren der Handlungsziele zurückzieht. Das alles gilt umso mehr, als auch Weber selbst wusste, und der Verf. notiert es zu Recht, dass Rationalismus auch immer sein Gegenteil produziert, das Rationale also „gegenüber anderen Mächten des historischen Lebens“ immer auch begrenzt und labil bleibt. Siehe M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 71978, 537. Was aber bedeutet das für die These des Verf., der Rationalismus sei der gemeinsame Nenner des „Kosmos“ der Wertsphären?

Share


Export Citation